Jedes Gegentor ist nur ein neuer Anstoß

Der Verein wird 100 Jahre alt und blickt auf eine Geschichte mit vielen Gegentoren zurück

Lutz Herrschaft (Tagesspiegel Online)

Es kam einer Demütigung gleich, als der Offenbacher Fußballclub Kickers im Jahr 1959 aus dem Dunkel der Geschichte auftauchte. Die erste Mannschaft schien zum Höchsten berufen - doch das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft ging verloren. Das war 1950 schon einmal passiert, gegen den VfB Stuttgart. Diesmal aber hatten sie gegen ihren Erzrivalen verloren, die Unaussprechlichen, die in anderen Landesteilen Eintracht Frankfurt heißen. 1970 gewannen die Kickers den DFB-Pokal; es sollte der einzige Triumph bleiben. Ein Jahr später dann die bislang schwerste politische Erschütterung der Republik: der Bundesliga-Skandal. Den hat der OFC allerdings entgegen verbreiteter Ansicht nicht verursacht, sondern publik gemacht, weil der Verein mit den besser betuchten Vereinen nicht mitbieten konnte.

Offenbach hat ungefähr 115 000 Einwohner. Bei Zweitligaspitzenspielen besuchten in der Saison 1999/2000 um die 25 000 Leute das Stadion Bieberer Berg. Knapp 22 Prozent der Bevölkerung hatten demnach nichts Besseres zu tun, als ein Spiel der Zweiten Fußball-Bundesliga zu besuchen. Zum Vergleich: Bei Eintracht Frankfurt müssten ungefähr 143 000 Besucher ins Waldstadion kommen. Sie werden dies natürlich nicht tun, und die Soziologie weiß auch, warum: Zur Eintracht gehen "Konsumenten", die "weder Loyalität noch Gewohnheiten" hätten. Mit anderen Worten: Die Eintracht soll ähnliche Zwecke erfüllen wie das zwanghafte Hochhäuserbauen oder Witze über Offenbach, sie soll die Gier einer Regionalmetropole nach Grandezza bedienen. Tut die Eintracht das nicht, gucken die Leute Eishockey oder American Football. Oder bauen wieder ein Hochhaus, von dem der Hessische Rundfunk dann täglich berichtet, wie hoch es ist.

Kickersfans dagegen seien eher "Kunden", was eine weit größere "Toleranzgrenze für schlechte Spielleistungen" zur Folge habe - so sieht es jedenfalls die Autorin einer Studie über die Offenbacher Hooliganszene der achtziger Jahre. Mit Kant gesprochen: Die Kickers sind jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel anzusehen. Kickersfans gelten daher als ebenso reizbare wie prinzipienfeste Gesinnungsethiker - Widerstand gegen aus ihrer Sicht verderbte Institutionen wie den DFB oder Waldhof Mannheim ist Pflicht. Nach dem Lizenzentzug 1989 wurde die DFB-Zentrale belagert und mit Leuchtraketen beschossen. Mit den verfeindeten Mannheimern lieferte sich die Offenbacher Hardcorefraktion 1999 eine Schlacht, die unter dem Namen "Himmelfahrtskrawalle" bekannt wurde.

Doch viel näher als eine wie immer geartete Himmelfahrt liegt dem Kickersfan das alltägliche Exerzitium: Seit Jahrzehnten gilt es, die wacklige Balance zwischen Anmaßung und Demut stoisch zu meistern. Für Thomas von Aquin entstammt die amour fou zu den Kickers folglich einer "Selbsterkenntnis, die die Nichtswürdigkeit des Menschen sieht und ihn in seinen Grenzen hält, aber auch seine Würde nicht vergisst". Der Kirchenschriftsteller Tertullian formuliert: "Ich glaube an den OFC, weil es absurd ist." Der Fan Aristoteles spricht in Sachen OFC von mesotés, was böswillige Kommentatoren der Bockenheimer Schule mit "Mittelmaß", Offenbacher Graecisten indes mit "Mittelkreis" übersetzen, fürwahr eine Lebensmetapher des weisen Griechen: Jedes Gegentor ist nur ein neuer Anstoß.

In Offenbach wird Fußball seit hundert Jahren gearbeitet. In Offenbach herrscht Stallgeruch, hier wird noch ausgebildet. Hat der OFC Deutschland nicht Rudi Völler und Erwin Kostedde geschenkt? Gut, Völler hat in Hanau mit dem Kicken angefangen, Kostedde in Münster. Aber Dieter Müller, jetzt OFC-Präsident. Und Uwe Bein. Mit dem durften sich später die Unaussprechlichen schmücken. Jedenfalls ist Profifußball unveräußerliches Naturrecht für Offenbach. Die Regionalliga ist an sich eine Zumutung, erst recht die Gegner dort, beispielsweise Wehen oder Darmstadt 98.

Andererseits hätte sich die dritte Liga für die Kickers fast als eine Nummer zu groß erwiesen. Gerade 24 Stunden vor dem hundertsten Jahrestag seiner Gründung hat der Verein durch ein 4:1 bei Jahn Regensburg den Verbleib in der Regionalliga gesichert. Es wäre der zweite Abstieg innerhalb eines Jahres gewesen; den Offenbachern, die sich schon mit Wehen und Darmstadt unterfordert fühlten, drohten Pflichtspiele gegen Klein-Karben oder Bernbach.

So feiert Kickes Offenbach das Hundertjährige als Regionalligist. Abgesagt wurde allerdings das geplante Freundschaftsspiel gegen die ungeliebte Eintracht aus Frankfurt - "ein Großteil unserer Fans möchte dieses Spiel nicht", lautet die Begründung des OFC. Aber irgendwann, so hoffen sie, werden beide Klubs wieder in derselben Liga kicken. Dann geht's allenfalls am Rand um Punkte. Und die Unaussprechlichen dürfen sich der Drohung der Kickerslegende Hermann Nuber erinnern: "Was war, is vergesse, geht widder von null los."