Glosse 6

"Im Angesicht des unerbittlich nahenden Endes der Winterpause: Soll ich in meinem Kopf nun den Realisten oder den Visionär triumphieren lassen?" (06.02.02)

 Prolog

(TFid) Das vergangene Geschehen hatte der ehernen Lichtgestalt recht gegeben. Voll und ganz. Ihre realistischen Visionen hatten sich bewahrheitet, ganz so, als hätte das sonst so unerbittliche Schicksal erst gar keine anderen Möglichkeiten der Gegenwart entwerfen können. Doch wer hätte auch am Urteil unseres edlen Recken zweifeln mögen, war er doch groß gewachsen, blond, überlegen, mit dem typischen Siegerlächeln ausgestattet und, um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, kaum glaublich, eben auch noch unwahrscheinlich sympathisch.

Viele Schlachten hatte die "Burg zum Leben" gewonnen, nicht ohne Verluste, natürlich, aber noch immer zierten als Trophäen der jüngst errungenen Siege zahlreiche auf Lanzen aufgespießte Feindesköpfe die höchsten Zinnen der wehrhaften Stadtmauern, manche trugen zur Verhöhnung als Kronen Blumengebinde aus Lilien. Und von ganz tief unten, aus den Kerkern und Verliesen, der immer feuchten Heimat der Ratten, drangen nur noch ganz selten die gequälten Schreie von einzelnen ungläubigen Kobolden nach oben, die trotz Daumenschrauben, Streckbank und eiserner Jungfrau noch immer nicht ihrer dämonischen Trinitas aus Zweifel, Kleingeistigkeit und Aufklärung abschwören wollten, bis das reinigende Feuer ihre dunklen Seelen erlösen durfte. Warum müssen auch immer an entscheidenden Punkten der Weltgeschichte mißmutige, kleinwüchsige, kurzsichtige und haarlos grüne Kobolde der Wahrheit im Wege stehen? Und warum wagen sie nicht einfach, treu und fest im Glauben, den gefährlichen, aber selig machenden Weg über den schmalen, rutschigen Grat, der geradewegs zum Übermenschen führt?

Doch dann wurde es plötzlich kalt, sehr kalt und unzählige Schneeflocken fielen. Sie begruben das weite Land unter sich und bildeten ein weißes Meer, an ein weiteres siegreiches Schlachten war nun nicht mehr zu denken. Der bis dahin so günstig verlaufene Feldzug mußte abgebrochen werden, ein letztes Scharmützel an dem Berg zu Elvers ging gar verloren. Müde trafen die Ritter in ihrer Trutzburg ein, sie ritten über den offenen Bach durch das Tor, bis schwere eiserne Ketten klirrten, die die über das Wasser führende Brücke des heiligen Ulrich hochzogen.

Und mit der Kälte kamen, Hand in Hand gehend und zuvor doch schon längst besiegt scheinend, in Form von Kobolden der treulose Unglaube und der nagende Zweifel zurück.

Plötzlich schienen sich die grünen Mißgeburten innerhalb der Stadtmauern wieder ungebremst vermehren zu können. Doch die löwenmähnige Lichtgestalt wäre nicht wirklich überlegen, hätte sie dies nicht schon längst erwartet. Denn das Schicksal ist, mag es sich auch manchmal vorläufig einen milden und nachsichtigen Schein geben, immer unerbittlich, und ein Held bleibt niemals eine Lichtgestalt, wenn er lediglich auf vergangene Taten zurückblickt, sondern nur, wenn er sich immer wieder erneut durch Taten selbst treu bleiben kann – und sei es auf Kosten von unwürdigen Kobolden.

Dies also geschah bisher, so steht es geschrieben. Und jetzt nehmen zartfühlende Geister bereits den ersten Hauch des nahenden Frühlings wahr.....

 

"Das Gold für den Sold unserer Ritter geht leider schneller zur Neige als erwartet", so plappert vorlaut ein bucklig mißratener Kobold weibisch vor sich hin, "ob diese, wenn die Wiesen wieder zu grünen beginnen, wohl den gleichen Elan an den Tag legen werden, wenn es gilt, unser Heim bis auf den letzten Mann zu verteidigen gegen die starken Hünen aus der Burg zu Regen und gegen die Mannen aus dem Burghaus, die alle zusammen geschworen haben, brennend und sengend durch unsere Lande zu ziehen und bis zur Sommerwende unsere Feste zu erstürmen?

Da pfeift unmerklich ein leises Sirren durch die noch kalte Luft, das Geräusch wird auch für die schwerhörige grüne Trauergestalt immer lauter, bis es schließlich für den Kobold zur ebenso schmerzlichen wie auch gerechten Gewißheit wird, als der Pfeil sich durch seinen Arm bohrt und ihn kurzerhand an die Tür nagelt, an die er sich gerade zuvor gelehnt hatte.

"Papperlapapp, Du kleingeistiger Wichtigtuer" wischt mit einer demonstrativ energischen Handbewegung der überlegene Blonde die ebenso untauglichen wie geradezu böswilligen Einwände des fast haarlosen Kleinwüchsigen souverän beiseite, während er aus weiter Ferne schnell herbeieilend einen neuen Pfeil in seinen schweren Langbogen spannt, "Es geht doch jetzt wieder ganz von vorne los, wer nicht wagt, der nicht gewinnt, die kommende Euphorie wird auch Dich bald mitreißen, falls Du überhaupt ein Herz haben solltest, Du unwürdige Kreatur!"

Obwohl er derart eindringlich auf die niederträchtigen Beweggründe seines ketzerischen Handelns hingewiesen wurde, entgegnet der Kobold weiterhin voller Falschheit: "Aber wenn doch alles am seidenen Faden hängt, dann sollte man doch, um nicht alles zu verlieren und dem Feind seine Stadttore zum plündern öffnen zu müssen, auch an eine Alternative denken. Man sollte z.B. die Ritter, die immer mehr Sold fordern, einfach gehen lassen und ihre Knappen dafür zum Ritter schlagen, damit wir im nächsten Kriegsjahr eine prall gefüllte Schatzkammer haben, mit der...."

Der zweite Pfeil bohrt sich, dank der nun geringer gewordenen Entfernung, völlig ohne Vorboten in den zweiten Arm, womit der Kobold nun hilflos mit dem Rücken an die Tür fixiert wird. "Was bist Du nur für ein wertloser Wurm", so der am Bösen im Menschen verzweifelnde blonde Held zu dem buckligen Abschaum, "Es geht doch jetzt wieder ganz von vorne los, wer nicht wagt, der nicht gewinnt, die kommende Euphorie wird auch Dich bald mitreißen, falls Du überhaupt ein Herz haben solltest, Du unwürdige Kreatur!"

"So sei es nun, ich gestehe meinen Fehler ein, Du hast Recht", entgegnet nun plötzlich hastig der falsche Kobold hinterlistig unserem tugendhaften Wohltäter, als er sah, daß ein dritter Pfeil des nun direkt vor ihm stehenden sympathischen Blonden auf seine schmale Brust gerichtet war, "Ich hatte den falschen Weg der Skepsis und der Spalterei eingeschlagen, aber von jetzt an werde ich Buße tun und als braver Bürger meinen Ablaß zahlen."

Die Augen des blonden Streiters für die Gerechtigkeit leuchten strahlend auf und verstrahlen ganz uneigennützig für einen kurzen Moment noch mehr Wärme als sonst (wenn das überhaupt noch möglich ist): "Es geht doch jetzt wieder ganz von vorne los, wer nicht wagt, der nicht gewinnt, die kommende Euphorie wird auch Dich bald mitreißen, falls Du überhaupt ein Herz haben solltest, Du unwürdige Kreatur! Doch ich sehe nun, dass Du es ehrlich meinst und Du wahrhaftig zur inneren Umkehr bereit bist. Dem werde ich nicht im Wege stehen." Die beiden Pfeile mit zwei kräftigen Tritten durch Arm und Tür zugleich hindurch nach innen durchtretend wuchtet er sich den vor Schmerz jämmerlich aufstöhnenden Kobold auf die Schulter: "Ich werde Dich reuigen und zur Buße bereiten Sünder nun in unseren Kerker geleiten und wünsche Dir aus vollem Herzen die Kraft, dort dem Dämon in Dir widerstehen zu können, damit Deine Seele erlöst werden möge, wenn die Priester des einzig wahren Glaubens Deinen Körper abschließend dem reinigenden Feuer übergeben."

So sollte die unsterbliche Seele des grünen Kobolds dann doch noch ebenso unverhofft wie unverdient eine zweite Chance bekommen.